Von seiner Kammer im Pfarrhaus rannte der junge
Jean Paul eines Abends herunter und über den Steg zu seiner
heimlich geliebten Katharina Bär, “mit ihrem schneeweißen
Schürzchen und Häubchen”, um sich seinen heiß
ersehnten ersten Kuss zu holen.
Kuß
Wie früher dem Kirchenstuhl gegenüber, so konnt' ich
nicht anders als zur erhöhten Schulbank hinauf - denn sie
saß ganz oben, die Katharina Bärin - mich verlieben,
in ihr niedliches rundes rotes blatternarbiges Gesichtchen mit
blitzenden Augen und in ihre artige Hastigkeit, womit sie sprach
und davonlief. Am Schulkarnaval, das den ganzen Fastnachtvormittag
einnahm und in Tänzen und Spielen bestand, hatt' ich die
Freude, mit ihr den unregelmäßigen Hopstanz zu machen
und so dem regelrechten gleichsam vorzuarbeiten und vorzutanzen.
Ja bei dem Spiele »wie gefällt dir dein Nachbar«
- wo man auf das Bejahen des Gefallens zu küssen befehligt
wird und auf das Verneinen einem Hergerufnen unter einigen Ritterschlägen
des Klumpsackes laufend Platz zu machen hat - trug ich letzte
häufig neben ihr davon; eine Goldschlägerei, durch
die meine Liebe wie das edelste Metall größer wurde,
und ein unterhaltendes Abwechseln wie sie mir immer den Hof
verbot und ich sie immer an den Hof rief, waltete ob.
Alle diese böslichen Verlassungen (desertio
malitiosa) konnten mir die Seligkeit nicht abschneiden, ihr
täglich zu begegnen, wenn sie mit ihrem schneeweißen
Schürzchen und Häubchen über die lange Brücke
dem Pfarrhause entgegenlief, aus dessen Fenster ich schauete.
Sie freilich zu erwischen, um ihr etwas Süßes nicht
sowohl zu sagen, als zu geben, z. B. einen Mundvoll Obst - dies
war ich, so schnell ich auch durch den Pfarrhof eine kleine
Treppe hinablief, um die Vorbeilaufende unten im Fluge zu empfangen,
meines Wissens nie imstande. Aber ich genoß genug, daß
ich sie vom Fenster aus auf der Brücke lieben konnte, was,
hoff' ich, für mich nahe genug war, da ich gewöhnlich
immer hinter langen Seh- und Hörröhren mit meinem
Herzen und Munde stand. Ferne schadet der rechten Liebe weniger
als Nähe. Wäre mir auf der Venus eine Venus zu Gesicht
gekommen: ich hätte das himmlische Wesen mit seinen in
solcher Ferne so sehr bezaubernden Reizen warm geliebt und es
ohne Umstände zu meinem Morgen- und Abendstern erwählt
zum Verehren.
Inzwischen hab' ich das Vergnügen, alle,
welche in Schwarzenbach bloß ein wiederholtes Joditz der
Liebe erwarten, aus ihrem Irrtum zu ziehen und ihnen zu melden,
daß ich es zu etwas brachte. An einem Winterabende, wo
ich meine Prinzessinsteuer von Süßigkeiten schon
vorrätig hatte, der gewöhnlich nur die Einnehmerin
fehlte, beredete der Pfarrsohn, der unter allen meinen Schulkameraden
der schlechteste war, mich zum verbotenen Wagstücke, während
ein Besuch des Kaplans meinen Vater beschäftigte, im Finstern
das Pfarrhaus zu verlassen, die Brücke zu passieren und
geradezu (was ich noch nie gewagt) in das Haus, wo die Geliebte
mit ihrer armen Mutter oben in einem Eckzimmerchen wohnte, zu
marschieren und unten in eine Art von Schenkstube einzudringen.
Ob Katharina aber zufällig da war und wieder hinaufging,
oder ob sie der Schelm mit seiner Bedientenanlage unter einem
Vorwande herunterlockte, auf die Mitte der Treppe; oder kurz
wie es dahinkam, daß ich sie auf der Mitte fand: dies
ist mir alles nur zu einer träumerischen Erinnerung auseinandergeronnen;
denn eine plötzlich aufblitzende Gegenwart verdunkelt dem
Erinnern alles was hinter ihr ging. So stürmisch wie ein
Räuber war ich zuerst der Geber meiner Eßgeschenke,
und dann drückt' ich - der ich in Joditz nie in den Himmel
des ersten Kusses kommen konnte, und der nie die geliebte Hand
berühren durfte - zum ersten Male ein lange geliebtes Wesen
an Brust und Mund. Weiter wüßt' ich auch nichts zu
sagen, es war eine Einzigperle von Minute, etwas, das nie da
war, nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit
und Zukunft-Traum war in einen Augenblick zusammen eingepreßt;
- und im Finstern hinter den geschloßnen Augen entfaltete
sich das Feuerwerk des Lebens für einen Blick und war dahin.
Aber ich hab' es doch nicht vergessen, das Unvergeßliche.
Ich kehre wie eine Hellseherin aus dem Himmel
auf die Erde zurück und bemerke nur, daß diesem zweiten
Weihnachtfest der Ruprecht, da er ihm nicht vorlief, nachlief
und ich nach Hause kommend schon unterwegs den Boten fand und
zu Hause stark gescholten wurde über mein Auslaufen. Gewöhnlich
fällt immer nach zu heißen Silberblicken der Glücksonne
ein solcher Schlossen- und Schlackenguß. Was tat es mir?
Mein Paradies war durch nichts zu ersäufen; denn blüht
es nicht noch heute fort bis an diese Feder heran?
Es war, wie gesagt, der erste Kuß, und
zugleich, wie ich glaube, der letzte dazu, wenn ich nicht absichtlich,
da sie noch lebt, nach Schwarzenbach fahren und da einen zweiten
geben will. Wie gewöhnlich nahm ich während meines
ganzen Schwarzenbacher Lebens mit meiner telegraphischen Liebe
vorlieb, welche noch dazu ohne einen antwortenden Telegraphen
sich erhalten und beantworten mußte. Aber wahrlich, niemand
tadelt die Gute weniger als ich, wenn sie damals schwieg oder
jetzo noch - nach ihres Mannes Tode -; denn ich mußte
mich später in fremdes Lieben und Herz immer erst langsam
hineinreden; es half mir nichts, daß ich sogleich mit
fertigem Gesicht und allem Außen schon dastand; allen
diesen körperlichen Reizen mußte später erst
die Folie der geistigen von mir untergelegt werden, bevor sie
genugsam glänzten und blendeten und zündeten. Aber
dies war eben das Fehlerhafte in meiner unschuldigen Liebezeit,
daß ich, ohne Umgang mit der Geliebten, ohne Gespräche
und Einleitung, ihr bei meiner dürren Außenseite
die ganze Liebe auf einmal hervorgefahren zeigte und kurz daß
ich ordentlich als der Judenbaum vor ihr stand, der ohne den
Umschweif von Ästen und Blättern die weiche feine
Blüte aus der unansehnlichen Rinde hervortreibt.
aus "Selberlebensbeschreibung"
- Dritte Vorlesung - Schwarzenbach an der Saale - Kuß